Sola - Feuer und Asche

Kapitel Fünf

28.02.0114 (d.n.Z.), EW7-12-LS

Der Plan ist perfekt und auch Jared wird keinen Grund mehr vorbringen können, der mich davon abhalten könnte.

 

0135 (d.n.Z.)

 

Enttäuschung durchfuhr mich und als ich mich im TATEs umsah, erkannte ich, dass auch Nour verschwunden war. Was sollte das? Irgendwie wirkte das TATEs jetzt anders. Ich wusste nicht genau warum, aber es fühlte sich kälter an. War das meine Einbildung? Ich stand auf, um nach draußen zu gehen. Ich brauchte frische Luft. Ich musste atmen. Auf dem Weg nach draußen stieß ich mit jemandem zusammen.

»Vorsicht!«, sagte eine ruhige, tiefe Stimme und Wärme durchfuhr mich. Er war zurück!

»Aras«, war alles was ich sagen konnte und als ich zu ihm aufsah in seine wunderschönen blauen Augen, war es wieder als säßen wir noch am Tisch und er wäre nie gegangen.

»Aleyna.« Ich sah die Wärme in seinen Augen und die Luft kehrte in meine Lungen zurück. Aleyna. Mit nur einem Wort hatte er mich gerettet. Ich blickte auf meine Hände. Mit einem Mal verlegen, versuchte ich mich von meinen kitschigen Gedanken loszureißen. Er war da. Er stand vor mir und das einzige, an das ich denken konnte, war, dass wir uns jetzt küssen mussten. Ich schaute wieder auf, spürte seinen Atem auf meiner Haut. Doch in dem Bruchteil einer Sekunde, in dem ich ihn wieder anschauen wollte, fiel es mir auf. Etwas fehlte. Etwas war falsch. Vollkommen falsch. Doch der Augenblick war zu kurz, um noch etwas ändern zu können. Als ich in Aras Gesicht schaute, sah er aus wie immer. Absolut perfekt mit der kleinen Narbe an der Augenbraue. Doch ich wusste mit hundertprozentiger Sicherheit, dass hier etwas absolut falsch lief!  Doch was war es? Ich suchte sein Gesicht ab, das meinem nun immer näherkam. Der Moment, auf den ich vorhin die ganze Zeit gewartet hatte. Endlich. Doch plötzlich kamen mir Zweifel. Wir standen immer noch im TATEs. Irgendwie immer noch gut abgeschirmt von all den anderen Menschen und irgendwie so offensichtlich, wie auf einem Präsentierteller. Mein Herz schlug heftig, doch nicht aus dem gleichen Grund, wie noch vor wenigen Minuten. Von irgendwoher hatte sich die Angst in mein Herz gestohlen und noch viel mehr Zweifel. Was lief hier nur falsch? Warum erkannte ich es nicht? Sein Mund war nur noch Millimeter von meinem entfernt. Ich schloss meine Augen, wie schon vorhin und konnte seine Lippen schon auf meinen erahnen, als Aras den Mund öffnete und in mir alles zu Eis gefror.

     »Was tut Das denn hier?«, lachte die gackernde Stimme von Clémence Ravensdale in meinen Ohren. Ich riss die Augen auf und sah, wie Aras wunderschönes Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzogen war. »Es nutzt dich nur aus, Crescendia! Es wird dich verderben!«

»Ja, Mutter«, hörte ich Syxts Stimme genau neben mir und drehte mich zu ihr um.

»Was?« Ich schrie es fast, doch kein einziger Ton verließ meine Lippen.

»Sieh es dir nur an, Crescendia«, fuhr die grauenvolle Stimme von Syxts Mutter aus Aras Mund fort, »Es vergisst, dass es mundtot ist. Es denkt, es hätte das Recht, etwas zu sagen. Ist das nicht herrlich?« Das gackernde Lachen stieg in meinen Kopf und dröhnte und klang und trieb mich in den Wahnsinn. Ich umfasste meinen Kopf mit den Händen, versuchte, an meinen Haaren zu reißen, um das grässliche Geräusch aus meinen Gedanken zu bekommen. Doch ich konnte nur entsetzt feststellen, dass da keine Haare waren.

»Immerhin müssen wir uns diesen abscheulichen Anblick nicht mehr antun, nicht wahr, meine Liebe?« Ich schaute zur Seite, in eines der Seitenfenster des TATEs, dass jetzt wie ein Spiegel mein Abbild zeigte. Ich hatte keine Haare! Sie hatten mir meine Haare genommen! Das was mich zur Sieben machte und sie verachteten mich noch immer.

»Nein!«, versuchte ich zu schreien, doch noch immer verließ kein Laut meinen Mund. Nein! Ich sah wie Aras, immer noch lachend auf Syxt zuging und seinen Arm um sie legte.

»Warum schauen wir es uns eigentlich immer noch an, Mutter?«, fragte Syxt in ihrem süßesten Singsang und schaute mich angeekelt an. Tausend Messerstiche durchbohrten mein Herz. Nein!! Das konnte nicht sein! Das war alles ein schlechter Witz. Eine weitere Stimme aus der anderen Richtung kam immer näher.

»Schau es dir an, Eno!« Pius und Enola standen nun auf meiner anderen Seite. Ich war eingekesselt von allen Seiten und konnte meine Beine nicht bewegen. Ich kam nicht weg. Ich war gefangen. Von ihren Worten, von ihren Blicken. Kälte kroch in jede Faser meines Körpers. Lähmte mich. Machte mich krank. Ließ mich mich selbst verabscheuen und hassen. Ich war ein Nichts. Eine Kreatur. Dazu gemacht, um begafft und erniedrigt zu werden. Das war der Sinn meiner Existenz. Nun trat auch noch Kethlin Vasco zu ihnen, mit diesem wissenden Lächeln, dass so gern ihre Lippen zierte und verzog den Mund, als sie mich sah.

»Naja, lange wird es sowieso nicht durchhalten!«

»Es ist so erbärmlich!«, sagte Enola und spuckte in meine Richtung. Und nun begannen sie alle zu lachen, während ich immer noch unbeweglich in ihrer Mitte stand und ihren Beschimpfungen nicht entgehen konnte.

»Wer könnte so etwas mögen?«, fragte Syxt und lachte ein gehässiges Lachen, das ich noch nie bei ihr gehört hatte. Ich wollte schreien und davonlaufen, mich wehren. Doch sie hatte ja recht. Ich war ein Nichts. Ein Niemand. Es nicht wert, auch nur angeschaut zu werden.

»Wer könnte so etwas lieben?« Ich wusste nicht, wer von ihnen es sagte und es war auch egal. Ich war egal. Ihnen egal. Etwas in mir zerbrach.

»Niemand könnte so etwas lieben!« Diese Stimme! Ich riss ein letztes Mal die Augen auf. Es kostete mich so viel Kraft und Überwindung, denn ich wusste, wem diese Stimme gehörte. Sie hatte sich tief in meinen Erinnerungen vergraben, doch ich erkannte sie sofort und sah plötzlich in die grasgrünen Augen meiner Mutter! Niemand könnte so etwas lieben!Sie hatte mich nicht geliebt! Sie hatte mich verlassen! Mich allein gelassen! Ganz allein…

     Aleyna, flüsterte eine weitentfernte Stimme. Das war nicht der Name dieser ungeliebten Kreatur. Wie konnte so etwas Abscheuliches wie ich auch einen Namen haben. Den Namen wäre es nicht wert. Eine Sieben. Ein Geschöpf. Aleyna! Die Stimme wurde lauter. Doch ich erkannte den Namen nicht mehr. Ich war in einen Strudel aus Anfeindungen, Beleidigungen und Demütigungen gefangen und drehte mich um mich selbst. Alles drehte sich. Die Stimmen drehten sich. Ich wusste nicht mehr, wo oben oder unten war. Ich wusste gar nichts mehr. Nur, dass es mir egal sein konnte. Ich war schließlich auch allen anderen egal. Selbst meiner eigenen Mutter!

     »Aleyna!« Ich schreckte hoch und sah erneut in grasgrüne Augen. Nein! Ich konnte, dass nicht noch länger ertragen. Es war zu viel. Viel zu viel! Ich riss mich von den Augen los und krümmte mich zusammen, bis ich hoffte, nicht mehr gesehen zu werden. Bis ich so klein war, wie ich mich fühlte. »Hey, Kleines. Alles ist gut. Es war nur ein Traum«, sagte Jares Stimme beruhigend an meinem Ohr, während seine Hand über meine Haare glitt. Meine Haare! Ich griff hinein und seufzte tief. Es war nur ein Traum gewesen! Dieser Traum! Ein Traum, der meine Kindheit geprägt hatte. Mich immer und immer wieder in der Nacht schreiend aufgeweckt hatte. Es kam mir beinahe so vor als wäre ich wieder fünf und Jared würde wie fast jede Nacht an meinem Bett sitzen und mich beruhigen. Aber ich war fast zwanzig und diesen Traum hatte ich schon seit Jahren nicht mehr gehabt. Ich war nicht mehr das verängstigte kleine Kind von damals! Ich war stärker! Und doch hatte mich diese eine Begegnung mit Aras Tondrea in das kleine Mädchen von damals zurückverwandelt. Dafür wollte ich ihn hassen! Aber das konnte ich nicht. Und genau das war das Problem.

Mein Herzschlag verlangsamte sich und ich löste mich aus der verkrampften Haltung, die ich eingenommen hatte. Jareds beruhigende Worte und die Stimme meines fünfjährigen Ichs, die ein vertrautes Mantra wiederholte, ließen mich zu mir selbst zurückfinden. Ich bin nicht allein. Sie liebte mich. Ich bin nicht allein. Sie liebte mich!

»Besser?«, fragte Jared. Ich nickte nur, noch nicht bereit dazu, zu reden und damit vollständig in die reale Welt zurückzukehren. Dieser Traum war so real gewesen. Doch jetzt im Nachhinein machte er gar keinen Sinn mehr. Aras, der mit der Stimme von Syxts Mutter sprach. Meine eigene Mutter. Es war alles nur noch ein großes Fragezeichen.

»Komm mit runter in die Küche. Ich mache dir einen Tee.« Jare stand auf und verließ mein Zimmer und ich setzte mich langsam auf und überlegte noch immer, wo um alles in der Welt dieser Traum wiederhergekommen war.

 

Als ich in die Küche kam, stand schon eine dampfende Tasse auf meinem Platz. Jared stand am Tresen und rührte in seiner eigenen Tasse, während ich mich auf einen Stuhl fallen ließ und meine Hände um meinen Tee legte. Das tat gut! Die Wärme floss durch meine Finger in meinen ganzen Körper und sofort fühlte ich mich besser. Das schaurig kalte Gefühl, das der Traum hinterlassen hatte, verflüchtigte sich und ich seufzte erleichtert auf.

»Willst du darüber reden?«, fragte Jared und schaute mich aus müden Augen aufmerksam an. Sie sahen wirklich genauso aus wie die, meiner Mutter, wurde mir wieder mal bewusst und mein Herz zog sich zusammen. »Es war der Traum?« Trotz der Frage klang es eher wie eine Tatsache. Wieder nickte ich nur.

»Du hattest schon lange keinen Albtraum mehr«, sprach mein Onkel den Gedanken aus, den ich selbst nicht in Worte fassen konnte. Er setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch und legte seine Hände in ähnlicher Weise um seine eigene Tasse, wie ich es getan hatte.

»Stimmt.« Meine Stimme klang spröde und trocken in der nächtlichen Stille und sofort nippte ich an meiner Tasse.

»Hast du… Ich meine, war sie-« Jared brach ab, doch ich wusste auch so, was er fragen wollte.

»Ja. Sie und Syxt und-« Diesmal war ich es, die nicht weitersprach. Ich konnte Jare nicht von Aras erzählen. Das ging nicht. Auch wenn ich sonst über alles mit ihm sprechen konnte. Von Aras konnte ich ihm nicht erzählen. Ich war mir selbst nicht sicher warum. Nicht weil Aras ein Mann war und ich eine Frau, nicht weil er mich total aus der Bahn geworfen hatte. Aber Aras hatte so eine Aura, eine Art und ein Talent dafür, mich Dinge denken zu lassen, die Jared ohne jeden Zweifel abgelehnt hätte. Und wenn ich ihm von Aras erzählt hätte, hätte ich ihm auch von diesen Gedanken erzählen müssen. Gedanken über Freiheit und Gleichheit. Gedanken, in denen die Kategorien keine Rolle mehr spielten und eine Welt, in der ich eine von vielen war und nicht die Einzige von etwas. Ich weiß, wie Jared mich angeschaut hätte, hätte ich ihm davon erzählt. Ich hatte diesen Blick bei Jared nur selten gesehen, doch die Enttäuschung, die darin lag, hatte mich jedes Mal härter getroffen, als jede Beleidigung und jede Beschimpfung, die mir je an den Kopf geworfen worden war. Denn es würde bedeuten, dass ich alles ignoriert hätte, was er mir je gesagt hätte. Wovon er sicher war, dass es der einzige Weg sei als Sieben in Casacor zu überleben. Und diese Gedanken gehörten definitiv nicht dazu.

»Und?«, hakte der nach, als ich nicht weitersprach. Mein geschundenes Gehirn schaltete schneller, als ich es nach dem Traum erwartet hatte.

»Und Clémence Ravensdale.«

»Clémence Ravensdale.« Jared nickte wissend und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Immerhin war Syxts Mutter wirklich Teil des Traumes gewesen, wenn auch nicht ganz so, wie ich es Jared nun glauben machen wollte. »Bist du ihr in den letzten Tagen begegnet?«

»Gestern«, erwiderte ich und schaute auf meine Tasse, damit Jared mein Gesicht nicht sah. Er dachte wohl, ich würde meine Trauer vor ihm verstecken wollen, denn er seufzte tief, doch in Wahrheit hatte ich nur Angst, dass er die Wahrheit in meinem Gesicht lesen könnte. Er kannte mich zu gut und er würde erkennen, dass Syxts Mutter nicht der Grund für meinen Albtraum gewesen war. Doch er kannte auch Clémence Ravensdale und wusste, wie sie sich mir gegenüber verhalten haben musste. Darum wollte er auch gar nicht wissen, was genau passiert war und stellte es auch nicht in Frage.

     Eine Zeit lang blieb es ruhig, während jeder von uns in seine eigenen Gedanken und Erinnerungen vertieft war. Ich glaubte einfach, dass am Tag zuvor so viel geschehen war, dass mein Gehirn keinen anderen Weg gefunden hatte damit umzugehen, als mich wieder einen solchen Traum träumen zu lassen. Was hatte ich auch anderes erwartet nach der Angst um meine Arbeitsstelle, Kethlin Vasco, eben jener Begegnung mit Syxts Mutter, Eno und Pius und um all das noch zu übertreffen, der verfluchte Aras Tondrea, der mich einfach hatte sitzen lassen, ohne ein Wort der Erklärung.

     Dass auch meine Mutter in dem Traum auftauchte, um mir mal wieder zu sagen, dass sie mich nicht liebte und deshalb verlassen hatte, konnte den Rest kaum noch toppen.

»Du weißt, dass sie dich geliebt hat«, unterbrach Jared nun meine Gedanken. Und ich fragte mich einmal mehr, ob er sie lesen konnte, weil ich gerade genau das gedacht hatte, was er aussprach.

»Ja, Jared«, sagte ich fast schon ein wenig genervt. Diese Diskussion, beziehungsweise, diesen Monolog von ihm, hatte ich mir in den Jahren, die ich bei ihm lebte, viel zu häufig anhören müssen.

»Sie liebte dich über alles, Kleines!«, wiederholte er fast so, als hätte er meine Erwiderung gar nicht gehört. Sein Blick ging an mir vorbei.

»Ich weiß doch kaum was von ihr, also muss ich dir wohl glauben.« Ich meinte es nicht wirklich ernst. Ich war gereizt. Ob von dem Traum oder etwas anderem, wusste ich nicht, aber ich wollte zum ersten Mal in meinem Leben nicht über meine Mutter reden.

»Was willst du denn wissen?« Doch diese Frage brachte mich aus dem Gleichgewicht. In all den Jahren hatte es Jared tunlichst vermieden über meine Mutter zu sprechen. Vor allem als junges Mädchen, hatte ich unendlich viele Fragen über sie gehabt. Ich hatte damals das Gefühl, sie kennenlernen zu müssen, doch Jared hatte nie über sie gesprochen. Umso mehr verwunderte es mich, dass er jetzt so bereitwillig Fragen über sie beantworten wollte.

»Ich weiß nicht.« Ich versuchte, mir eine Frage einfallen zu lassen, doch mein Kopf war wie leergefegt.

»Du siehst ihr so ähnlich Len!«, begann Jared, ohne auf eine Frage von mir zu warten. Ich versuchte, mir mein eigenes Spiegelbild vor Augen zu führen. Wie sah ich mich, wenn ich morgens in den Spiegel sah? Natürlich waren da die roten Haare, die in feurigen Wellen über meine Schultern flossen. Die rund gebogenen Augenbrauen, die etwas zu spitze nach oben gebogene Nase und die Sommersprossen, die sie umspielten. In einer anderen Welt, in einem anderen Leben hätten die Leute meine hohen Wangenknochen wohl hübsch gefunden, zumindest hörte ich, dass die Einser und Zweier das untereinander wohl für attraktiv hielten. Ich machte viel Sport, war aber nicht besonders groß. Syxt überragte mich bei weitem. Schließlich versuchte ich, mir all das bei meiner Mutter vorzustellen. Nur statt der blauen Augen, die mir normalerweise entgegen schauten, ersetzte ich sie durch die tiefgrünen Augen meines Onkels. Hatte sie so ausgesehen? Eine nur wenige Jahre ältere Version meiner selbst mit grünen Augen?

»Wie war sie?«, hörte ich mich selbst fragen, während in meinem Kopf ein Bild dieser Person heranwuchs und von Sekunde zu Sekunde deutlicher wurde. Ich wollte ihr Leben einhauchen. Sie auch innerlich dieser Frau nachempfinden, die meine Mutter war.

»Sie war gutherzig, liebenswürdig, aber genauso starrsinnig wie stolz. Sie konnte unglaublich nervig sein. Verdammt, sie konnte der nervigste Mensch auf diesem Planeten sein!« Jared raufte sich die Haare. Eine Angewohnheit, die ich von ihm gar nicht kannte. Er lächelte gequält und es tat mir so leid, dass er glaubte, mir von ihr erzählen zu müssen. »Sie musste immer Recht haben, denn egal was Lolo sagte, es stimmte und wenn sie sich die Tatsachen zurechtbog.« Der Laut, eine Mischung aus Lachen und Kummer, den er ausstieß, brach mein Herz und fasst kam es mir vor, als würde ich auch um diese Person trauern, die er da beschrieb. Alles, was ich von meiner Mutter noch wusste, waren nur Bruchstücke. Kleine Erinnerungsfetzen, die kamen und gingen und die ich nie richtig zuordnen konnte. Manchmal erschien mir ein Bild vor meinem inneren Auge, wie ich auf dem Schoß einer alten Frau saß, von Büchern umgeben und dann war da sie, wie sie vor mir kniete und aus einem der vielen Bücher las. Oder wie sie mich auf den Armen im Kreis herumwirbelte und lachte und ich lachte mir ihr. Immer wieder war ich mir unsicher, ob diese Erinnerungen wirklich waren, oder ob ich sie mir nur einbildete. Manchmal hatte ich Träume, von denen ich später glaubte, sie wären Wirklichkeit und irgendwann vermischten sich die Träume mit der Realität und ich konnte die Erinnerungen nicht mehr voneinander unterscheiden. Auch jetzt versuchte eine Erinnerung – oder war es doch nur ein Traumbild – an die Oberfläche zu drängen, doch ich schob das Bild der nächtlichen Straße beiseite.

»Du nanntest sie Lolo?«, fragte ich stattdessen und schaute Jare wieder an, der genauso in alten Geschichten gefangen zu sein schien wie ich. Nur wusste er vermutlich, was wahr war und was nicht. Als sein Blick meinen traf, konnte ich den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten. Ich glaubte, Kummer zu sehen, doch da war noch etwas anderes, das ich nicht in Worte fassen konnte. Doch der Ausdruck verschwand, bevor ich mir sicher sein konnte, was er zu bedeuten hatte. Das leise Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück. Und mir fielen zum ersten Mal die tiefen Augenringe auf, die sein Gesicht zierten. Er musste auch schlecht geschlafen haben.

»Ja, Lolo. Loreen. Als Kind war sie noch wilder und musste immer ihren Willen durchsetzen und unsere Eltern gaben ihr bereitwillig alles, was sie wollte. Und irgendwann fing sie an mich Jarjar zu nennen. Ich war drei Jahre älter als sie und hasste diesen Namen, doch sie ließ nicht davon ab. Also begann ich sie Lolo zu nennen, in der Hoffnung, sie würde den Namen so schlimm finden, dass sie aufhörte, mich Jarjar zu nennen. Doch ich hatte die Rechnung ohne meine nervige kleine Schwester gemacht.« Doch seine Stimme klang nicht im Geringsten so, als wäre er von ihr genervt gewesen. »Zu meiner Schande liebte ihr sechsjähriges Ich diesen Spitznamen und ich wurde meinen nie wieder los.« Er lachte und diesmal überwog die Freude den Kummer seines Lachens. Und ich hatte langsam das Gefühl, dass ich wirklich etwas über sie erfahren wollte.

»Wo hat sie gearbeitet?«, wollte ich wissen und verschränkte meine Beine auf meinem Stuhl zum Schneidersitz. Die Tasse in meinen Händen war mittlerweile leer und kalt, doch ich wollte jetzt nicht aufhören. Ich wollte nicht ins Bett gehen, ohne wenigstens ein paar Fragen gestellt zu haben. Jetzt wo Jared schon einmal redete, musste ich die Chance doch nutzen. Auch wenn ich noch vor ein paar Minuten ganz anderer Meinung gewesen war.

»In einem Buchladen, der unserer Großmutter, deiner Urgroßmutter gehörte. Victoria. Sie hat Loreen und mich großgezogen, nachdem unsere Eltern gestorben waren.«

»In einem Buchladen?« Dann schien die Erinnerung, die ich von ihnen in diesem Raum voller Bücher hatte, wahr zu sein. Doch wozu ein Buchladen? Man konnte doch alle Sachen auf Screens und IDs lesen, wenn man wollte. »Hat denn irgendwer diese Bücher gekauft?«

»Nicht sehr viele Leute«, lachte Jare und freute sich offenbar über mein erwachtes Interesse.

»Aber wieso hatte meine Urgroßmutter einen Buchladen?« Es schien einfach so sinnlos. So unnütz. Allein die Vorstellung. Ein Laden voller Bücher aus wertvollem Papier. Es kam mir irrsinnig vor.

»Victoria war eine altmodische Frau. Der Starrsinn deiner Mutter, den hatte sie von Victoria geerbt. So viel ist mal sicher.« Jared stand auf und ging zum Küchentresen, wo er Wasser für mehr Tee ansetzte. Er stand mit dem Rücken zu mir, als er weitersprach und ich ließ ihn reden, viel zu fasziniert, von den Geschichten, die er mir offenbarte. »Mein Urgroßvater, Victorias Vater, sein Name war Patrrick Ferrell, er war Entdecker gewesen, in einer Zeit, in der die Mauern um Casacor noch nicht so unpassierbar waren, wie es heute der Fall ist. Er zog aus, um in den Ruinen außerhalb der Stadt nach Überresten der alten Zeit zu suchen und wurde häufiger fündig, als es gut für ihn gewesen wäre. Victoria war ähnlich besessen von der alten Zeit, wie ihr Vater, nur war sie nicht so abenteuerlustig wie er, sondern las und forschte in den Texten und Fragmenten einer längst vergangenen Zivilisation. Die Texte, die sie fand, ließ sie neu drucken. Viele von ihnen werden auch heute noch im Bildungssektor genutzt, natürlich nur für die Screens, doch Victoria blieb dem alten Format treu und verkaufte sie an jeden, den es interessierte.« Während seiner Geschichte hatte sich Jared mir eine zweite Tasse vor die Nase gestellt und sich mit seiner eigenen wieder auf seinen Platz gesetzt.

»Und gibt es den Laden noch?« Ich wüsste nicht, dass ich jemals etwas von einem solchen Laden gehört hätte. Ich fragte, mich auch, warum Jare mir nie davon erzählt hatte, aber vermutlich schmerzten ihn die Erinnerungen an seine Familie zu sehr.

»Nein«, sagte er schlicht. »Nach Victorias Tod wurde er geschlossen.«

»Das ist schade.« Ich hätte zu gern gewusst, wie es in dem Laden ausgesehen hatte. Meine Erinnerungen daran waren zu verschwommen und schemenhaft, um etwas erkennen zu können.

»Naja, ich glaube, Lolo war ganz froh, dass sie nicht mehr da arbeiten musste. Zwar mochte sie die Bücher, doch ich glaube, es war ihr zu langweilig.«

»Langweilig? Was wollte sie denn stattdessen machen?« Ich versuchte, mir sie vorzustellen. Den ganzen Tag in dem Buchladen sitzend und von einem anderen Leben träumend. Plötzlich schien mir meine Mutter gar nicht mehr so fremd zu sein, denn das Gefühl kannte ich nur zu gut.

»Ich glaube, nicht einmal Loreen selbst wusste, was sie eigentlich machen wollte und ihr Leben war leider zu kurz, um damit sie das herausfinden konnte.« Das traurige Lächeln war auf sein Gesicht zurückgekehrt und ich fragte mich, was ihn trauriger stimmte. Dass er seine Schwester so früh verloren hatte oder der Gedanke daran, was sie hätte noch alles machen können.

»Und wie kam sie mit den Kategorien klar?«, fragte ich vorsichtig und wie erwartet wurde Jares Miene ernst. Sofort ergänzte ich meinen Gedanken. »Ich meine, sie war auch eine Sieben? Wie ist sie damit umgegangen?« Jare entspannte sich sichtlich, als ihm bewusst wurde, worauf meine Frage eigentlich abzielte. Und dennoch fragte ich mich, wie er meine Frage verstanden haben musste, um so eine Reaktion zu verursachen. War es Angst? Angst um sie? Um mich? Natürlich, was auch sonst? Allein der Gedanke, was mit mir passieren würde, hätte jemand diese Frage gehört und genauso falsch interpretiert wie Jare. In nur wenigen Minuten wären die Pacem hier gewesen und ich weiß nicht, was das für mich bedeutet hätte. Schließlich verschwanden Menschen in Casacor. Spurlos. In einer gewaltfreien Welt. Und doch verschwanden die Menschen einfach.

     »Sie kam zurecht. Ihr fiel es aber schwer, sich anzupassen. Dafür war sie zu selbstbewusst.« Jared seufzte bei seinen Worten tief uns schaute mich an. Er wirkte unglaublich müde. Nicht, weil wir um diese Uhrzeit eigentlich schlafen sollten. Wie spät war es eigentlich? Ich war nur kurz vor der Ausgangssperre nach Hause gekommen. Wie lange hatte ich geschlafen, bevor mich dieser schreckliche Traum geweckt hatte? Die Anzeige über der Küchentür hinter mir zeigte 3:48Uhr an. Ich musste doch fast drei Stunden geschlafen haben. Doch das war es auch nicht, was Jared müde aussehen ließ. Er wirkte geistig müde. Als würden ihn all diese Erinnerungen, die wir in dieser Nacht hervorriefen, ihn um Jahre altern lassen.

     Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüsterte aber still und heimlich immer dieselben paar Worte. Es fiel ihr schwer, sich anzupassen. Was sollte das heißen? Ließ sie die Leute wissen, dass sie es nicht gut fand, wenn sie sie beleidigten oder bezog sich das nicht-anpassen-können, auf etwas viel Größeres? Vielleicht… ja vielleicht. Aber nein. Oder? Doch? Nein! Diese Vorstellung war absolut unmöglich. Ganz zu schweigen davon, dass es auch gar keinen Sinn machen würde.

     »Möchtest du noch mehr wissen oder reicht es dir für heute Nacht erst einmal?«, unterbrach Jared meine Gedanken und riss mich zurück in die Wirklichkeit. Immer wieder diese Wirklichkeit! Ich dachte über seine Frage nach und tatsächlich war da eine Sache, die ich mir nie getraut hatte anzusprechen und ich fragte mich, ob das nicht die Möglichkeit dazu wäre. Schließlich hatte er schon so viel erzählt. So viele Sachen, von denen ich keine Ahnung gehabt hatte. Sollte ich?

»Und mein Vater?« Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, bereute ich sie auch schon. Jared schien mit dieser Frage gerechnet zu haben. Zumindest konnte ich keinerlei Spur von Überraschung oder Schock auf seinem Gesicht erkennen, vielmehr schien er zu lächeln. Doch das änderte nichts an meinem schlechten Gewissen. Warum sollte ich überhaupt nach ihm fragen? Es erschien mir unfair gegenüber Jared, wo er mich doch aufgezogen hatte, wie seine eigene Tochter. Wo er für mich doch mehr ein Vater war, als es irgendein anderer Mensch jemals hätte sein können. Doch es beruhigte mich ein wenig, zu sehen, dass ich ihn mit dieser Frage nicht verletzt hatte.

»Es tut mir leid, Kleines.« Sein Lächeln wurde traurig, als er die Enttäuschung in meinem Blick sah, denn ich wusste bereits, was er sagen würde. Ich spürte es förmlich, noch bevor er ein einziges Wort gesagt hatte. »Ich weiß es nicht. Lolo hat nie über ihn gesprochen.« Doch da war noch mehr. Ich erkannte es in der Sekunde, als er meinem Blick auswich.

»Und?«, sagte ich. Er würde mir doch nichts verheimlichen, oder? Er war Jare. Er durfte mir nichts verheimlich! »Und was, Jare?« Meine Stimme wurde nachdrücklicher und ich umklammerte die Tasse, die vor mir stand. Tränen der Wut versuchten, sich einen Weg über mein Gesicht zu bahnen, doch ich unterdrückte sie.

»Nichts und.« Sein Versuch war erbärmlich. Er musste es in meinem Gesicht lesen. Ich glaubte ihm nicht und das wusste er. Nach einigen Sekunden der Stille, in denen wir einen wortlosen Kampf ausfochten, kamen mir die unterschiedlichsten Ideen in den Sinn. Der eine schlimmer als der andere. Mein Blick fokussierte Jareds. Meine Augen durchbohrten ihn. Er musste es mir sagen, sonst würde mich meine Vorstellung wahnsinnig machen.

»Er wusste es nicht, okay!«, stieß Jared plötzlich aus und die Welt um mich herum blieb stehen. Nicht weil, mein Vater nicht von mir wusste. Aus irgendeinem Grund hatte ich mir das schon bald gedacht. Irgendwie war mir der Gedanke auch lieber gewesen, als die Vorstellung, ein Mann müsste mit der Scham leben, eine Sieben als Tochter zu haben und dann auch noch diese Sieben zu sein. Nein, was mein Gedankenkarussell zum Stehen brachte, war das ›wusste‹. Vergangenheitsform. Vergangenheit.

»Er ist tot?«

Fortschritt
...🖋

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