Sola - Feuer und Asche

Kapitel Zwei

07.02.0114 (d.n.Z.), EW7-12-LS

Jared ist endlich wieder da. Ich wollte ihn dazu überreden mit zu Nanna zu kommen, doch er meint, er sei zu beschäftigt. Aber ich werde noch dafür sorgen, dass die beiden endlich mal wieder miteinander reden, egal, was sie sagen! 

 0135 (d.n.Z.) 

„Da bist du ja endlich!”, rief mir Syxt entgegen und kam auf mich zu, als ich aus dem Zentrum auf die Straße trat. „Das hat aber auch lang genug gedauert. Wo warst du denn?”
Nach meinem Gespräch mit der Konsulin war ich zurück an meinen Arbeitsplatz gekehrt und hatte mich erst einmal setzen müssen. Zu geschockt war ich von der Tatsache, dass ich -ausgerechnet ich- jetzt Bereichsleiterin sein sollte. Ich meine, ich war eine Sieben! Dass ich als Assistentin arbeiten durfte, war schon eine enorme Chance für mich gewesen, aber Bereichsleiterin eines ganzen Jahrgangs? Und dann auch noch Gesellschaft und Politik. Für viele andere, auch für Syxt, wäre das sicher nicht von Bedeutung. Eine wirklich hohe Stellung war das für Einser, Zweier und Dreier nicht. Aber für mich! 

Ich war selbst überrascht gewesen, dass ich es letztendlich doch geschafft hatte, wieder aufzustehen und das Gebäude zu verlassen. Doch noch immer war ich sprachlos und auch Syxt bemerkte das nun, nachdem ich ihr immer noch nicht geantwortet hatte.

„Geht es dir gut?”, fragte sie und ihre Miene wechselte von aufgeregt zu besorgt. „Was hat der Idiot von einem Chef jetzt schon wieder gemacht? Ich sag dir, sollte es jemals dazu kommen, dass er Hilfe braucht und ich seine Ärztin bin, werde ich diesen Typen verbluten lassen!” Ihre Tonlage schien sarkastisch zu sein, doch ich erkannte den Ernst und die Besorgnis in ihrer Stimme.

„Nein, nein! Er hat gar nichts getan”, sagte ich schnell und wurde mir nur kurze Zeit später bewusst, dass er doch etwas getan haben musste. Für einen klitzekleinen Augenblick machte ich mir Sorgen um 568-GT und fragte mich, ob Kethlin Vasco die Wahrheit gesagt hatte und er wirklich nur versetzt worden war. Doch ihre Nachricht an ihn heute Morgen war unterschwellig dennoch seltsam beunruhigend gewesen. Aber was sollte sie schon mit ihm gemacht haben? 
Zwar gab es in Casacor noch ein Gefängnis im Regierungssektor , doch dadurch, dass es keine Gewalt gab und die Menschen in Frieden lebten, wurde dieses kaum noch benutzt. Das einzige Mal, dass ich davon gehört hatte, dass jemand in dieses Gefängnis musste, war schon viele Jahre her. Ich könnte mich vermutlich gar nicht daran erinnern, hätte es Jared damals nicht so zugesetzt. 

Die Frau, die man beschuldigt hatte, Waffen in die Stadt geschmuggelt zu haben -also echte Waffen, tödliche Waffen, nicht die Betäubungswaffen, die die Pacem, unsere Friedenswächter, trugen, um im Notfall eingreifen zu können. Diese Frau war wohl eine alte Mitschülerin von Jared gewesen und obwohl sie jahrelang keinen Kontakt hatten, war er dennoch bestürzt gewesen, dass jemand, den er kannte, zu so etwas in der Lage war.

„Lennie?”, Syxt schlang ihren Arm um meinen und zog mich weg von dem Gebäude hinter mir. “Sagst du mir jetzt was los ist?” 

Ich riss mich von meinen Gedanken los. Das war jetzt nicht der passende Moment dafür und erzählte Syxt stattdessen, was heute passiert war. Jedes einzelne Detail. 

„Kethlin Vasco. Konsulin Casacors, rechte Hand und engste Vertraute des Präsidenten? Die Kethlin Vasco ist zu dir gekommen, um dir zu sagen, dass du befördert wurdest?” Ich konnte an ihrer Stimmlage erkennen, dass sie es auch merkwürdig fand. Auch wenn noch etwas anderes sehr viel deutlicher aus ihrer Aussage herauszuhören war – Erstaunen und Fassungslosigkeit. Es ergab einfach keinen Sinn. Was konnte 568-GT getan haben, dass sie persönlich zu mir kam, um mir mitzuteilen, dass er fort war. 

„Aber das ist doch auch völlig egal. Du wurdest befördert!” Diese Nachricht schien zumindest für Syxt sehr viel wichtiger zu sein, auch wenn ich mir noch nicht so sicher darüber war, dass diese Beförderung etwas Positives war. “Jetzt haben wir schon zwei Gründe heute Abend zu feiern!”

Der große Platz vor dem Regierungspalast füllte sich mit immer mehr Menschen. Entlang der Straßen, die sich wie Sonnenstrahlen vom Eingang des Regierungssektors entfernten, standen die Bürger Casacors ordentlich aufgereiht und warteten auf die Parade ihres Präsidenten. 

Ich fand diese Paraden lächerlich. Wir wussten schließlich, wer unser Präsident war. Warum musste er also einmal im Monat auf einem extra dafür angefertigten CTrain durch die Straßen des Goldenen Zirkels fahren? Syxt und ich hatten früh beschlossen, dass es dabei nur um das Ego gehen musste. Das Ego des Präsidenten, der sich von seiner Bevölkerung bejubeln lassen musste, um sich besser zu fühlen. Sich bestätigt zu fühlen. 

Aber sowas durfte man natürlich nicht laut sagen. Und ab­gesehen davon konnte uns auch egal sein, wie groß das Ego des Präsidenten war. Solange wir zur Parade kamen und uns ruhig verhielten. Darüber reden durften wir trotzdem nicht.

Wie das Bildungszentrum, in dem ich arbeitete, waren auch hier alle Häuser aus weißem Marmor gebaut. Durch die Sonne schienen wir in einem leuchtenden Meer aus Licht zu stehen. Ich versuchte, einen Über­blick über die Massen zu bekommen, um Pi und Eno zu finden, doch es war aussichtslos. 

„Siehst du sie irgendwo?”, fragte ich Syxt und drehte mich zu ihr um.

“Nein”, sagte sie auf Zehenspitzen stehend. „Aber das ist ja auch kein Wunder bei den ganzen Menschen. Los komm!” Damit zog mich Syxt vom Rand des großen Platzes weg und in eine der Seitenstraßen hinein, während sie ihre ID nahm und auf dieser herum tippte.

„Wo seid ihr?”, fragte sie dann und wartete auf eine Antwort, die nur sie hören konnte. “Okay, bleibt wo ihr seid. Wir sind in zwei Minuten da!” Sie schaute die Straße hinunter und dann wieder zu mir. 

„Sie sind auf der anderen Seite des Platzes.”

„Natürlich.”, antwortete ich und seufzte.

Die Menschen, die sich um uns drängten, schienen uns gar nicht zu sehen, als wir uns unseren Weg durch die Massen suchten. Es war bereits 16:57 Uhr. Sobald die Parade begonnen hatte, würden wir keinen Zentimeter weit mehr gehen können.
Doch schließlich hatten wir es, an die Häuserwand gepresst, geschafft, auf die andere Seite des kreisförmigen Platzes zu gelangen. 

„Len! Syxt! Da seid ihr ja!”, schrie Eno uns entgegen. Doch außer einer Umarmung für die beiden, fiel unsere Begrüßung reichlich kurz aus, denn mit einem Mal verstummten alle Geräusche um uns herum und aus den Lautsprechern im Goldenen Zirkel erklang erst die Hymne Casacors und schließlich die Stimme des Mannes, für den all die Menschen hier waren. Marius William Stuart.

„Bürger von Casacor!” Seine Stimme klang wie raues Sandpapier. Tief und klar. Und doch war sie warm und respekteinflößend, ohne jedoch beängstigend zu wirken. Wenn Souveränität eine Stimme hätte, dann würde sie wohl so klingen. „Es ist mir eine Ehre, heute vor Euch treten zu dürfen.” Bei diesen Worten begannen die Jubelschreie der Menschen auf der anderen Seite des Platzes. Der Konvoi des Präsidenten hatte die Palastmauern verlassen und bewege sich nun langsam über den Platz. 

„Casacor bietet ein erfülltes Leben. Aber das ist nur möglich, weil ihr alle tagtäglich dafür sorgt, dass es genügend Nahrungsmittel, Strom und Bildung für alle gibt! Ihr solltet stolz auf euch sein, Casacor.” Die Worte waren andere, doch im Grunde sagte der Präsident bei jeder dieser Paraden dasselbe. Die Bürger Casacors hätten die Stadt aus dem Nichts geschaffen und würden sie seitdem autark halten. Eine Leistung, die gewürdigt werden müsse. Er sei zutiefst dankbar dafür, dass er eine so tolle Bevölkerung führen dürfe… blah, blah, blah… Die Floskeln könnte man ewig so weiterführen. Wenn die Menschen in Casacor ihm wirklich so wichtig wären, wie er sagte, dann würde er unseren seltenen freien Nachmittag nicht mit etwas verschwenden, was ohnehin allen klar war. 

Der CTrain, eine normale Kapsel. auf die eine Art Aussichtsplattform montiert war, damit auch die Menschen in den hinteren Reihen die Chance hatten ihren Präsidenten zu sehen, kam immer näher und nun begannen die Leute in unserer Nähe ebenfalls in Jubelstürme auszubrechen. Auch Pius und Enola stimmten ein. Syxt und ich warfen uns nur vielsagende Blicke zu und mussten beide ein Lachen unterdrücken, bevor wir selbst begannen zu applaudieren und die ein oder andere zustimmende Floskel zu schreien. Man konnte ja nie wissen, wer einen gerade beobachtete. Und nur weil ich diese Parade lächerlich fand, stimmte ich dem, was der Präsident sagte trotzdem zu. Die Bürger in Casacor arbeiteten und lebten füreinander. Und dass das so bereits über ein Jahrhundert lang funktionierte, war bemerkenswert.

„Nach dem verheerenden Krieg, der die Zivilisation auf diesem Planeten zerstörte, müssen wir dankbar sein, für die Chance, die uns unsere Vorfahren boten, indem sie Casacor errichteten. Nur ihnen ist es zu verdanken, dass wir heute im absoluten Frieden leben können.”, fuhr der Präsident fort. 

Nun konnten wir ihn und seine Gefolgschaft auf dem CTrain sehen. Marius William Stuart wirkte in seinem maßgeschneiderten Anzug und seiner aufrechten, geraden Haltung wie der perfekte Anführer. Seine Präsenz war fesselnd und sein Lächeln, welches er in die Masse warf, einnehmend. Für seine sechsundvierzig Jahre sah er noch überraschend jung aus, doch es war die Frau neben ihm, die meine Aufmerksamkeit sofort fesselte. Sie ließ mich wieder daran denken, was für ein ereignisreicher Tag heute gewesen war. Ich konnte den Gedanken an 568-GT einfach nicht verdrängen. 

Als der Konvoi, der von unzähligen Pacem begleitet wurde, genau vor uns war, streifte ihr Blick nur eine Sekunde lang meinen. Kethlin Vasco. Sie schien mich bemerkt zu haben, denn ihr Blick glitt zurück zu mir und blieb an mir hängen. Dann erschien ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht und sie nickte mir zu. Ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte, also nickte ich nur ebenfalls und wandte gleich darauf meinem Blick Syxt zu, die die merkwürdige Interaktion bemerkt zu haben schien. Ihr fragender Blick sprach Bände und ich hob nur kurz die Schultern, um ihr zu signalisieren, dass ich genauso ahnungslos über Kethlin Vascos Verhalten war wie sie. 

Als ich den Blick wieder auf die Parade richtete, sah ich gerade noch wie sie dem Präsidenten etwas ins Ohr flüsterte und er sich suchend in unsere Richtung umdrehte. Bevor er meinem Blick begegnen konnte, schob sich die Menge vor mir zusammen und der CTrain war Sekunden später zu weit entfernt, als dass er mich hätte sehen können. Was hatte die Konsulin ihm wohl gesagt? Das ist die Sieben, die den Platz von 568-GT einnehmen würde? Mal sehen wie lange sie durchhält??? In meinem Kopf begannen die Gedanken erneut zu kreisen.

Erst als mich jemand am Arm berührte, wurde ich zurück in die Gegen­wart katapultiert. Syxt stand neben mir und schaute mich besorgt an.

“Was ist denn heute los mit dir?” Sie ließ mich los und schaute sich um. Niemand sonst schien irgendetwas mitbekommen zu haben. Pius und Enola waren immer noch voll auf die Parade fixiert und auch sonst interessierte es keinen, dass ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Ich bemerkte, wie ich zitterte, doch konnte es auch nicht einstellen. 
Syxts Miene spiegelte mein Entsetzen und die Angst wider, die sich still und heimlich in meinen Kopf geschlichen hatte. Wie direkt nach meinem Gespräch mit der Konsulin fühlten sich meine Beine zu weich an, um mein Körpergewicht zu tragen. Was sollte ich jetzt nur machen? Meinte Kethlin Vasco es wirklich gut mit mir, indem sie eine Sieben eine Stelle übertrug, die ein Zweier mit viel mehr Erfahrung nicht geschafft hatte? Oder wollte sie mich auch loswerden, weil sie genau wusste, dass ich es niemals schaffen würde? Ich konnte sie so schlecht einschätzen, hatte keine Ahnung, was ich von dieser ganzen Situation halten sollte. 

Panik erfasste mich, als mir meine Hoffnung auf eine halbwegs normale Zukunft zu entgleiten schien. Was sollte ich nur tun? Hatte ich nicht alles dafür gegeben, mich anzupassen? Nicht aufzufallen! Ich trug meine Haare immer zum Dutt, damit sie nicht so auffielen und sich daran keiner mehr stören musste, als ohnehin an der Nummer, die mich definierte. Ich verhielt mich ruhig und tat immer alles, was man mir sagte, ohne mich je beschwert zu haben. Ich wollte doch nur leben. Normal leben! War allein das zu viel verlangt?

Erneut waren es Syxts Arme, die meine Gedanken beruhigten. Ich bemerkte erst, dass sie mich umarmte, als mein Herzschlag ruhiger wurde. Sie sagte nichts. Das brauchte sie nicht. Wir beide kannten mich gut genug, um zu wissen, dass Worte mir nicht helfen würden. Ich zerdachte alles. 

Wie aus weiter Ferne hörte ich noch immer die Worte des Präsidenten, obwohl die Stimme noch immer aus den Lautsprechern über uns schallte.
“Unsere Gemeinschaft macht uns stark” Donnerte die Stimme und im Chor antwortete ganz Casacor „Unsere Gemeinschaft ist unsere Stärke!” 

Und wie wir so dastanden, Syxt, die mich umklammert hielt. Ich, die ich versuchte, mich zu beruhigen, kam mir der Gedanke, dass diese Aussage, in diesem Moment, so viel mehr Kraft besaß, als ich jemals für möglich gehalten hätte und so flüsterte ich leise an Syxts Hals:

„Unsere Gemeinschaft ist unsere Stärke!”

„Hör doch auf diese pathetische Floskel zu wiederholen!”, war alles, was ich von Syxt hörte, dann lösten wir uns von einander und grinsten einander an. 

 

„Na, was sagt ihr?”, fragte Syxt an Eno und Pi gewandt, nachdem die Parade vorbei war. „Wir müssen dringend feiern, dass ich endlich im Layla-Finley-Stuart-Hospital arbeiten werde!” 

Syxt und ich hatte beschlossen, dass wir am heutigen Abend nicht mehr über die Geschehnisse und Kethlin Vasco reden würden. Das beinhaltete zwar, dass auch Enola und Pius erst mal nicht davon erfahren würden, doch Eno würde es spätestens morgen mitbekommen, sobald ich an 568-GTs Stelle im Büro des Bereichsleiters sitzen würde und bis dahin bräuchte ich erst mal eine Verschnaufpause. Ich wollte das ganze Thema momentan einfach nur verdrängen und es erst wieder hervorkramen, wenn ich genügend Zeit hätte, mir über die Beweggründe der Konsulin und allem anderen klar zu werden. 

„Wo genau wollt ihr denn hin?”, fragte Pius und schaute uns stirnrunzelnd an. Syxt und ich tauschten einen Blick. Wir hatten schon vorher drüber gesprochen und uns fiel es auch in diesem Moment wieder auf. Pi hatte sich, seit er begonnen hatte für die Technik- und Kommunikationsabteilung des Regierungssektors zu arbeiten, sehr verändert. Er wirkte zurückhaltender, weniger tatenlustig. Früher war er es gewesen, der uns versuchte zu überreden, abends auszugehen. Jetzt war er skeptisch über jeden Vorschlag von Syxts Seite und reagierte immer wieder abweisend, wenn wir darüber sprachen, etwas zu machen, was nicht in unseren Tagesplänen festgeschrieben war.

„Wir dachten, wir könnten ins TATEs gehen, etwas trinken, reden und darauf anstoßen, dass Ziele doch nicht so unerreichbar sind, wie man manchmal denkt.” Bei den Worten warf mir Syxt einen vielsagenden Blick zu. Ich verdrehte die Augen. Wir wollten doch nicht darüber reden! 

„Ins TATEs? Ich weiß nicht. Da soll es in letzter Zeit ziemlich wild zugegangen sein”, sagte Pius und Syxt brach in schallendes Gelächter aus, wie nur Syxt es konnte. 

„Wie alt bist du Pi? Achtzig oder zwanzig? Es ist das TATEs, natürlich wird da nicht leise Bingo gespielt!” Das TATEs war die Bar im Goldenen Zirkel. Es gab Alkohol, natürlich nur bis zur vorgeschriebenen Ausschankgrenze – das Maximum, was ein Erwachsener in Casacor trinken durfte, ohne die Kontrolle zu verlieren. Es wurde alte Musik gespielt und das ganze Ambiente wirkte wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Anstatt weißer, cleaner Möbel und minimalistischer Einrichtung, quoll das TATEs quasi über von bequemen, alten Sesseln und schiefen Tischen, die alle nicht zueinander passten und es irgendwie aber doch taten. Dazu hingen an den Wänden asymmetrische Tapeten in den unterschiedlichsten Farben und das tollste am TATEs, überall Gemälde aus der zerstörten Welt. Es waren nur Kopien, Nachahmungen, wenn man so wollte, weil viele der Bilder nur in schriftlichen Beschreibungen überliefert wurden. Und doch konnte man das TATEs einfach nur als bequem und wohlig beschreiben. 

„Darum geht es doch gar nicht, Crescendia.” Ich holte tief Luft. Das konnte lustig werden und Pius müsste das eigentlich wissen, doch er schien es einfach zu ignorieren. „Worum es mir geht, ist-„ 

„Wie hast du mich gerade genannt?” Syxts Tonlage war in wenigen Augenblicken von belustigt zu todernst gewechselt. Sie verengte ihre Augen, bis das Blau ihrer Augen fast diamanten wirkte. 

„Bei deinem Namen. Wirklich, sind wir nicht langsam zu alt für dieses ganze kindische Gehabe? Werde erwachsen, Crescendia, danach können wir gerne darüber sprechen ins TATEs zu gehen. Ich muss jetzt los. Man sieht sich!” Pius drehte sich zu Enola um. 
„Kommst du mit, Eno?”, fragte er sie. Enola warf uns einen entschuldigenden Blick zu. Sie und Pius waren so eng befreundet, wie Syxt und ich. Ich konnte verstehen, dass sie ihn nicht allein lassen wollte. Offensichtlich stimmte etwas mit ihm nicht und ich hätte zu gern allein mit ihm gesprochen, um etwas herauszufinden. Doch offensichtlich war das nicht möglich. 

„Wir sehen uns!”, war alles, was wir noch von Eno hörten, bevor sie an Pius’ Seite den Platz verließ, an dessen Rand wir immer noch standen. 

„Das ist gerade nicht wirklich passiert, oder?”, fragte Syxt ungläubig und durchbrach die Stille, in der wir schockiert und schweigend gestanden hatten. Sie blickte sich um, als würden Pius und Eno gleich irgendwo herkommen und erzählen, es wäre alles ein großer Witz gewesen. Doch sie kamen nicht zurück. 

„Vielleicht sollten wir das heute Abend lieber lassen. Ich hab das Gefühl, dieser Tag meint es nicht so besonders gut mit uns”, sagte ich vorsichtig. Dann hakte ich mich bei Syxt unter und zog sie in die entgegengesetzte Richtung von Eno und Pi. 

„Nein! Wir müssen etwas unternehmen.” Fast schon flehentlich schaute Syxt mich an und ihre Augen, die vor wenigen Augenblicken noch Armeen hätten töten können, durchbohrten mich nun in bester Dackelblickmanier. „Komm schon, Len! Du hast recht, heute war eigentlich ein beschissener Tag, selbst die Aussicht darauf, Ärztin zu werden kann das kaum aufwiegen, aber wir müssen das Beste daraus machen! Wir dürfen uns nicht kleinkriegen lassen!” 

„Okay, okay. Lass uns erst mal zu dir gehen und dann sehen wir weiter”, beschwichtigte ich sie. „Deine Eltern sind doch bestimmt wieder auf Arbeit gegangen, oder?” Syxts Eltern waren nur selten zu Hause. Das war zumindest dann von Vorteil, wenn ich Syxt besuchen wollte. Ihr Eltern verabscheuten mich! Unzählige Versuche hatten sie unternommen, um Syxt von mir fernzuhalten. Als wir jünger waren, schikanierten sie mich hauptsächlich mit Worten, doch das schien an unserer Freundschaft nichts zu ändern. Also begannen sie Syxt die unmöglichsten Sachen einzureden. Vorurteile über niedrige Kategorien, die viel zu viele Menschen glaubten. Doch auch das half nicht. Irgendwann gingen sie schließlich zu Jared und drohten ihm. Davon hatte ich erst vor einem Jahr erfahren. Jare meinte, er hätte mich nicht beunruhigen wollen und schon gar nicht hätte er gewollt, dass meine Freundschaft mit Syxt endete. Ich hätte ihm nicht dankbarer sein können. Ihre Eltern hätten ihm wohl gesagt, dass wenn er mich nicht von ihr fernhalten würde, sie dafür sorgen würden, dass er seine Arbeit verliere und ich niemals Arbeit finden würde. Jared war nicht darauf eingegangen. Er erzählte mir später, dass er sich sicher war, dass die Ravensdales zwar Einfluss in der Regierung hatten, aber erstens, sich dieser auf den Bereich Industrie beschränkte und zweitens, der Einfluss nicht so groß war, wie die Familie andere gern glauben machte. 

An dem Tag, an dem Jare mir diese Geschichte erzählte, hatte ich gerade angefangen, mich für Arbeitsstellen zu bewerben und ich glaubte, er hätte es mir nie erzählt, hätten ihn nicht doch Zweifel geplagt, ob Mr und Mrs Ravensdale nicht zumindest ihre Drohung in Bezug auf mich wahrmachen würden. Ich hatte all das dann auch Syxt erzählt, doch sie schien absolut nicht überrascht zu sein. Ihre Eltern hassten auch sie, doch scheinbar war dieser Hass nicht groß genug, tatenlos dabei zuzusehen, wie ihre Tochter mit einer Sieben verkehrte. Ich bin mir auch absolut sicher, dass Syxts Eltern mir die Schuld an ihrem ‚unkläglichem Verhalten’ gaben. Aber da sie sowieso die meiste Zeit arbeiteten, hatten sie irgendwann einfach angefangen mich zu ignorieren. 

„Wo sollten sie sonst sein?” Syxt lachte und ich war froh, dass sie die Auseinandersetzung mit Pius beiseiteschieben konnte. 

Syxt und ihre Eltern wohnten in dem Wohnviertel im Goldenen Zirkel, der für die ranghöchsten Bewohner Casacors vorbehalten war. Außer man zog in den Regierungssektor selbst, konnte man in Casacor kaum höher aufsteigen. Die Häuser in diesem Sektor waren nach dem Muster von sogenannten Mietskasernen gebaut, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was das bedeutete. Doch die etwa vier- bis fünfstöckigen Gebäude verliefen entlang der Straßen und bildeten riesige quadratische Blöcke in deren Zentrum ein Innenhof lag. Auch hier strahlten die Wände und reflektierten das Sonnenlicht des weißen Marmors. 

Die Wohnung, in der die Ravensdales lebten, war im obersten Stock eines dieser Gebäude. Die Wohnung war riesig und allein Syxts Zimmer war größer, als unser Wohnzimmer. 

„Okay, wir ziehen uns um und dann verschwinden wir wieder”, schlug ich vor. All die Jahre, in denen Syxts Eltern versucht hatten, mich loszuwerden, hatten doch ihre Spuren hinterlassen. Ich fühlte mich immer mehr als unwohl, durch diese Räume zu gehen. Als wäre ich sogar der Wohnung selbst unwillkommen. 

„Also gehen wir aus?” Syxts Grinsen war ansteckend. Sie hatte ihre gute Laune wiedergefunden. 

„Wenn du versprichst, dass du dich beeilst”, erwiderte ich und schaute mich um. Auch das Innere der Wohnung war in hellen Farben gehalten. Ein cremiges Weiß dominierte die Wände und die Möbel passten sich in einem angenehmen beige an. Hätte ich mich nicht so fehl am Platz gefühlt, hätte ich die Einrichtung bestimmt bewundert. Alles wirkte ordentlich und perfekt, ganz anders, als bei mir zu Hause. Zwar war es auch da immer sauber und ordentlich – Jared war in dieser Hinsicht sehr streng – doch allein, dass bei uns nicht alle Möbel farblich perfekt aufeinander abgestimmt waren und auf dem Teppich im Wohnzimmer das ein oder andere Glas in meiner Kindheit zu Bruch ging und sich der Inhalt auf diesem ausbreitete, sorgte dafür, dass das Haus – naja, dass es bewohnt wirkte. Hier dagegen schien alles steril zu sein, als wäre niemals jemand da. 

Wir liefen durch den Gang, der von Kommoden gesäumt in Syxts Zimmer führte, als am anderen Ende eine Tür zu hören war. 

„Crescendia Ravensdale, du bist zu spät!” Ich riss die Augen auf und starrte Syxt an, als ich die eisige Stimme ihrer Mutter vernahm. Als diese wiederum in den Flur trat und mich da stehen sah, wie ich mich panisch nach einer Fluchtmöglichkeit umsah – die es leider nicht gab – verengten sich ihre Augen, genauso wie es Syxts heute getan hatten. Sie und ihre Mutter schienen charakterlich nicht unterschiedlicher sein zu können, doch äußerlich hätten sie auch als Zwillinge durchgehen können, wäre der Altersunterschied nicht. 

„Was tut das denn hier?” Das. In meiner Brust zog sich etwas schmerzlich zusammen und Erinnerungen an meine Kindheit, in der diese Anrede sehr häufig gewesen war, auch von anderen Menschen als den Ravensdales, überfluteten meinen Geist. 

„Sprich nicht so mit Aleyna!”, stieß Syxt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. 

„Dass du dich mit diesem Ding herumtreibst, okay, du bist nun mal fehlgeleitet. Aber dass du es wagst, es mit in unsere Wohnung zu bringen.” Clémence Ravensdale schüttelte enttäuscht den Kopf. 

„Mutter!” Doch Syxt kam gar nicht dazu, etwas zu sagen. 

„Ausgerechnet heute, Crescendia!” Ausgerechnet heute? Ich schaute Syxt fragend an, doch die zuckte nur mit den Schultern. Sie wusste auch nicht, wovon ihre Mutter sprach. 

„Du hast es vergessen?” Mrs Ravensdale stieß ein freudloses Lachen aus. „Das Dinner mit dem Konsul! Crescendia, ich habe es dir wieder und wieder gesagt-” Diesmal war es Syxt die ihre Mutter unterbrach. 

„Und ich habe dir gesagt, Mutter, dass ich kein Interesse daran habe, an diesem dämlichen Essen teilzunehmen!” 

„Wortwahl, Crescendia!”, zischte ihre Mutter und ihr Blick fiel erneut auf mich. Oh, bitte nicht! „Das ist dieses DingEs bringt dir diese unsäglichen Sachen bei. Wir hätten damals wirklich mehr tun müssen, um es von dir fernzuhalten. Wie Tentakel hat es sich an dir festgekrallt, Crescendia, siehst du das denn nicht? Es nutzt dich nur aus, um sich besser zu fühlen! Es hat dich verdorben, dieses furchtbare Etwas!” Ich konnte spüren, wie ich mit jedem Wort, das sie sagte zusammenschrumpfte und kleiner wurde. Ich hatte Jahre damit zugebracht, mich damit abzufinden, dass die höheren Kategorien mich behandelten, als wäre ich weniger Wert. Ich hatte Jahre damit zugebracht, mich anzupassen, reinzupassen und glaubte, es geschafft zu haben, weil sie mich anfingen zu ignorieren. Doch das war ein Fehler. Ein Trugschluss. Sie würden mich niemals akzeptieren. „Es ist ein Unding, Crescendia, begreifst du das nicht? Es wird dich zerstören, bis du nie wieder gesellschaftsfähig sein wirst. Schau doch, was es mit dir gemacht hat! Du willst in einem Hospital arbeiten? Allen helfen? Du bist besser, Crescendia! Besser als diese Fünfer und Sechser und vor allen Dingen bist du besser als das!” 

Während Clémence Ravensdale ruhig, aber bestimmt auf ihre Tochter einredete, schien etwas in Syxt heranzuwachsen. Ich konnte es erst nicht erkennen, doch bei den letzten Worten ihrer Mutter, brach es aus Syxt heraus. Wie eine Explosion.
„Hör auf!”, schrie sie. „Hör auf!” 

Kurzzeitig blieb alles still. Syxt schaute zu Boden, als würde sie sich sammeln. Dann richtete sie sich auf, drückte ihren Rücken durch und fixierte mit ihren Augen das ausdruckslose Gesicht ihrer Mutter. 

„Du bist krank!”, sagte sie nun und es überraschte mich, dass sie es schaffte, ihre Stimme so ruhig zu halten. Mit der gleichen Autorität wie ihre Mutter beherrschte sie plötzlich den Raum. „Aleyna-Victoria Sola ist ein Mensch. SIE ist genauso viel wert, wie jeder andere Mensch in dieser Stadt. Und ihr diesen Wert und ihre Menschlichkeit abzuerkennen macht dich zu einem Monster, einem Unmenschen.” Sie holte tief Luft bevor sie weitersprach. „Ich bin stolz darauf, sie meine Freundin nennen zu können, denn sie ist der beste Mensch, den ich je getroffen habe. Aufrichtig, ehrlich, gutherzig, echt, liebenswürdig. Mit anderen Worten, ein viel besserer Mensch als du es bist und es jemals sein könntest. 
Solltest du-” Sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf die Brust ihrer Mutter.”-also jemals wieder auf den Gedanken kommen, du hättest in irgendeiner Weise das Recht, dich so über diese wundervolle, starke Frau so zu äußern, wie du es gerade eben gemacht hast, dann lass dir gesagt sein, dass du mich nicht nur heute Abend nicht bei deinem schicken tollen Dinner mit dem Konsul von Ist-mir-egal dabei haben wirst, sondern, dass du mich niemals wieder sehen wirst. Und wie willst du das Bild der perfekten Einserfamilie aufrechterhalten, wenn es keine Familie mehr gibt?” 

Mit diesen Worten zog sie mich an ihrer Mutter vorbei, raus aus der Wohnung in den Flur, ließ die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen und sank mit dem Rücken an der Tür zu Boden. 

Ohne darüber nachzudenken sank ich vor ihr auf die Knie und schloss sie in meine Arme. 

„Danke!”, schluchzte ich in ihre Haare. 

Ich hätte erwartet, dass auch Syxt geschockt über das Geschehene sein würde, doch stattdessen löste sie meine Arme von ihrem Hals und schob mich zurück. Sie strahlte mich an. Moment. Sie strahlte mich an? 

„Geht es dir gut?”, fragte ich. Diese Frage stellten wir einander an diesem Tag eindeutig zu häufig.

„Das war der beste Moment meines ganzen Lebens!”, stieß sie hervor und verfiel in schallendes, erleichtertes Gelächter. „Los, lass uns endlich von hier verschwinden!”

Fortschritt
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