Sola - Feuer und Asche

Prolog

Die Straße war dunkel und verlassen. Im Schein des Mondes sah man ein paar Insekten in der warmen Sommernacht tanzen. Irgendwo in der Ferne waren Rufe zu hören, doch sie waren zu weit entfernt, als dass man sie hätte beachten müssen. Die Straßenlaternen glimmten im Energiesparmodus vor sich hin, bereit, die Nacht zu durchbrechen, sollte sich jemand in den verlassenen Industriesektor verirren. Stille hatte sich über diesen Teil der Stadt gelegt und ließ die Nacht fast schon friedlich wirken.
Minuten vergingen, vielleicht auch Stunden und beinahe hätte man glauben können, dass diese Friedlichkeit wirklich war. Doch wie vieles in dieser Stadt, war das was man sah, nicht das was entscheidend war.

Ein Schrei durchschnitt die Stille der Nacht, gefolgt von einem Wimmern und mit einem Mal erstrahlten die Laternen und verfolgten die Person, die durch die Straße lief. Flammten auf und erstarben wieder, sobald sie niemanden mehr in ihrer Reichweite erkannten. 

Die Person – eine Frau, wie man nun sah, hatte ein kleines Mädchen auf dem Arm und bog, das Kind an ihren Körper gepresst, in die nächste Seitenstraße ein. Keine Sekunde später explodierte die Dunkelheit förmlich als die Straßenlaternen nicht nur einer Person die Nacht erleuchteten, sondern einer ganzen Horde an uniformierten Gestalten, die nicht nur die Dunkelheit, sondern auch die friedliche Stille beendeten. Befehle bellten durch die Straße und Flüche wurden ausgestoßen. Immer mehr von ihnen fluteten den gesamten Sektor und einen wirklichen Ausweg für die Frau schien es nicht mehr zu geben. Doch das hielt sie nicht davon ab, weiter zu kämpfen, nicht nur für sich, sondern vor allem für ihre kleine Tochter, die panisch in ihre Halsbeuge schluchzte. 
»Schhh«, versuchte die Frau die Kleine im Laufschritt zu beruhigen, »Alles wird wieder gut.« Doch die Kleine schien ihr nicht glauben zu wollen, denn ihr Wimmern wurde wieder lauter. 

Sich versichernd, dass sie noch niemand entdeckt hatte, durchlief die Frau eine weitere Gasse und kam in der nächsten Seitenstraße zum Stehen. Hier reihten sich die Lagerhallen aneinander und Deckung konnte man nirgendwo finden, doch die Frau schien nun erleichtert, denn sie versuchte, die Hände des Mädchens, das sich um ihren Hals klammerte, langsam zu lösen. Nur widerwillig öffneten sich die Hände der Kleinen und sobald sie mit ihren zierlichen Füßen den Boden berührte, umklammerte sie auch schon wieder die Beine ihrer Mutter. 

»Schau mich an, Al!«, sagte diese, schob das kleine Mädchen etwas von sich weg und ging vor ihr in die Hocke. Sie umfasst das verweinte Gesicht ihrer Tochter und wischte mit den Daumen die stillen Tränen weg, die noch immer über ihre Wangen flossen. Als das Mädchen endlich die Augen öffnete, strahlten der Frau leuchtend blaue Augen entgegen und ein Schmerz wie tausend Messerstiche durchfuhr ihr Herz. 
»Hör mir zu, Al.« Ein trauriges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, doch ihr Tonfall wurde nun ernst. 

»Du wirst dich gleich da drinnen verstecken«, ihr Blick wanderte zu einer Luke in einer der Lagerhallenwände, »und egal was passiert, du wirst die Tür nicht wieder öffnen. Hast du mich verstanden?« Das Lächeln, dass noch vor wenigen Augenblicken auf ihrem Gesicht zu sehen war, war nun einer verzweifelten Maske gewichen. Das Mädchen nickte leicht.

»Ich will, dass du es sagst! Du wirst die Tür unter gar keinen Umständen öffnen und nach mir suchen!« Tränen liefen der Frau bei diesen Worten über das Gesicht und die Hoffnung, an die sie sich die letzten Stunden verzweifelt geklammert hatte – die konnte sie vor dem Schmerz und der Angst in ihrer Brust nicht bewahren. 
»Du musst es mir versprechen!« 

»Ich versprechs!«, wimmerte die Kleine, ohne das Ausmaß ihres Versprechens zu verstehen. 
»Was versprichst du mir?«, fragte die Frau erneut und schaute sich, als wäre es ihr gerade wieder eingefallen, nach allen Seiten um, um sicher zu gehen, dass sie immer noch allein waren. 

»Ich komm nicht raus, egal was ist.« Die hohe kindliche Stimme zerriss der Frau das Herz und die Seele gleichermaßen. 

»Sehr gut, Al. Wenn es vorbei ist, kommt dich jemand holen, okay? Solange musst du warten und ganz leise sein, ja?« Wieder nickte die Kleine. Die Frau ließ das Gesicht ihrer Tochter endlich los und fuhr sich mit der Hand durch die feuerroten Haare. Sie wollte schon aufstehen, doch da hielt sie das Mädchen zurück. 

»Was ist mit dir, Mami?« Ihre erstickte Stimme war kaum zu hören. Die Frau ging noch einmal in die Knie. 

»Ich werde mich auch verstecken, Spätzchen«, antwortete sie und strich eine lose Strähne aus dem Gesicht ihrer Tochter. Sie waren genauso rot, wie ihre eigenen und die Frau wusste, dass das allein, das Leben ihrer Tochter maßgeblich beeinflussen würde. 
»Warum bleibst du nicht bei mir?«

»Weil das nicht sicher ist, Al. Sie dürfen dich nicht finden, hörst du? Sie dürfen nicht einmal erfahren, dass es dich gibt.« Nun liefen ihr wieder die Tränen über die Wange und als sie der Kleinen einen Kuss auf die Stirn drückte, entfuhr auch ihr ein Schluchzen 
»Du wirst niemals allein sein, okay? Egal, was passiert.« 

»Ich will nicht, dass du gehst, Mami.« Wieder schlang das Mädchen ihrer Mutter die Arme um die Hals, wo sie sich verkrampften, um sie nicht zu verlieren. 
»Das will ich auch nicht, aber es muss sein. Du bist nicht mehr sicher, Al. Und nichts ist wichtiger als deine Sicherheit, hörst du? Du bist das Wichtigste, was es in meinem Leben gibt!« Mit diesen Worten löste die Frau erneut die Arme der Kleinen um ihren Hals, drückte diese nach unten und einen letzten langen Kuss auf die süßen Schläfen ihrer Tochter. 

»Ich liebe dich, Al. Vergiss das nicht!« Dann schob sie die Kleine in die Luke und verschloss die Tür hinter ihr. Sie hörte noch die verzweifelten Rufe ihrer Tochter, doch die Tür blieb verschlossen, so wie es die Kleine versprochen hatte. Nach einigen Sekunden verstummten auch die letzten Geräusche und die Frau löste sich zum letzten Mal von dem Gedanken daran, was hätte sein können. Auch wenn sie erst fünf Jahre alt war, ihre Tochter war zu klug, um nicht zu verstehen, was hier vor sich ging. 
Nun hörte man wieder die Rufe der Männer und Frauen in den Uniformen. Vielleicht hatte man sie auch die ganze Zeit hören können, doch sie waren in diesen Augenblicken nicht wichtig gewesen. 

Die Frau rappelte sich auf und lief, mit einem letzten angstvollen Blick auf das Versteck ihrer Tochter, die Straße hinunter. Doch bevor sie die Kreuzung erreichen konnte, stellten sich ihr eine ganze Gruppe von ihnen in den Weg. 

Das Mädchen bekam von all dem in ihrer kleinen Höhle nichts mit. Das Versteck war winzig und dunkel, doch das Mädchen hatte keine Angst davor. Die einzige Angst, die sie beherrschte, war die Angst um ihre Mami. 

Plötzlich hörte sie von draußen laute Stimmen und laute Geräusche, die sie nur schwer einordnen konnte. Doch sie wusste, was es war. Schüsse von Geräten, die man Pistolen nannte und die es eigentlich nicht mehr geben sollte. Das wusste sie, weil ihre Mami auch so eine Pistole gehabt hatte. Die Geräusche kamen immer näher und das Mädchen verkroch sich in die hinterste Ecke ihres Verstecks. Die Angst lähmte sie und ließ sie ihr Versprechen beinahe vergessen. Sie durfte nicht da raus und sie durfte auch nichts sagen. Sie musste leise sein! 

Die Geräusche entfernten sich, doch noch immer schalten Stimmen und Schreie durch die Straße. Dann wurde es mit einem Mal ruhig. Der Herzschlag des Mädchens verlangsamte sich etwas. War es vorbei? Würde ihre Mami gleich zurückkommen und sie holen. Noch mehr Tränen rannen über ihr Gesicht, Tränen der Angst und der Hoffnung. Doch mit einem mal war nichts davon mehr wichtig, als nur Sekunden nach der Explosion, die Nacht ihre Dunkelheit und ihre Stille wiederfand.

Fortschritt
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